Willkommen im Zeitalter der Etiketten. Früher warst du ein Kind. Heute bist du ein Fall. Mit WLAN, Medikamentenplan und personalisierter Playlist für den Hyperfokus.
Du träumst im Unterricht? ADHS. Du redest zu viel? ADHS. Du redest zu wenig? ADHS, introvertierte Sonderform, erkennbar an der Blickrichtung deiner Augenbrauen
und der Anordnung deiner Stifte.
Was früher „kreatives Chaos“ hieß, ist heute: „Neurodivergenz mit exekutiver Dysregulation im sozio-kognitiven Hochfrequenzraum.“ Klingt klug. Ist es auch. Steht auf Seite 2 deines Behandlungsplans, gleich unter „Bitte nicht stören“. Du vergisst deine Wasserflasche
und denkst stundenlang über Moos nach? Diagnosefähig. Monetarisierbar. Teilbar.
#adhslife
#dopaminerefill
#ichbindannmalneurodivergent
Die Zahlen:
– 7 % aller Kinder: offiziell „auffällig“
– Jungen doppelt so oft
– Über 400.000: medikamentiert
– Tendenz: wachsend
– Aufmerksamkeit: sinkend
– Verständnis: stabil unter dem Gefrierpunkt
Früher hattest du Fantasie. Heute hast du eine ICD-Nummer und Eltern, die lernen müssen,
dich zu lieben nach Aktenlage.
Und dann die andere Seite: TikTok-Trauma. Selbstdiagnose per Softfilter. „Ich hab meine AirPods verloren und meine Gedanken rasen, also, lol, ADHS halt.“ 100.000 Likes. 0 Diagnostik. Aber immerhin: neurodivergent certified mit Linktree.
Währenddessen sitzt irgendwo ein Kind mit einem Kopf, der nicht abschaltet. Ein Jugendlicher,
der sich selbst dafür hasst, dass er nicht funktioniert. Eine Mutter, die weint, nicht, weil ihr Kind besonders ist, sondern weil niemand zuhört, solange es nicht störend genug ist.
ADHS ist keine Ästhetik. Kein Moodboard. Kein Designmerkmal für dein Online-Profil. Es ist ein Nervensystem, das im Dauerfeuer steht. Ein Geist, der denkt, bevor du überhaupt atmest. Ein Kampf um Alltag, während alle anderen Zeitpläne schreiben.
Und dann kommt das System:
„Bitte stillsitzen.“
„Bitte konzentrieren.“
„Bitte normal wirken.“
Und wenn das nicht klappt, gibt’s Pillen. Förderpläne. Oder Pausenaufsicht mit nervösem Lächeln. Du willst wissen, wie sich echtes ADHS anfühlt? Es ist nicht der Hyperfokus. Nicht das Zappeln. Es ist das tägliche Gefühl: „Ich bin falsch.“ Und die stumme Hoffnung: „Vielleicht merkt es heute keiner.“
Man sagt: „ADHS-Kinder brauchen Struktur.“ Klar. Aber vor allem brauchen sie eine Welt, die sie nicht erst akzeptiert, wenn sie sich selbst schon aufgegeben haben. Aber nein. Wir lieben es, wenn Kinder still leiden. Wir bewerten Zeugnisse, nicht Zustände. Wir therapieren Symptome,
statt zuzuhören. Und nennen das dann: Förderung.
Du willst Aufmerksamkeit? Dann sei bitte krank. Aber lieb dabei. Bitte laut, aber nicht zu unbequem. Bitte auffällig, aber marktfähig. Denn wer heute noch träumt, wenn die Welt funktionieren will, hat keine Störung. Sondern ein verdammtes Wunder im Kopf, das alle stört,
weil es nicht ins Formular passt. Und wenn sie dann weinen, sagen wir: „Verhaltensauffälligkeit.“
Wenn sie schweigen: „Sozial unsicher.“ Wenn sie wütend sind: „Impulskontrollstörung.“ Und wenn sie irgendwann aufhören zu fühlen: „Nicht mehr im System geführt.“
Tja. Vielleicht liegt das eigentliche Problem gar nicht im Kopf der Kinder, sondern in der Welt, die ihn zu laut gemacht hat. In einem System, das lieber Diagnosen stellt, als Fragen.
Wir pathologisieren das Anderssein, weil es uns erinnert, dass „normal“ oft nur ein anderes Wort für „angepasst“ ist. Und am Ende bleibt uns nichts weiter zu tun, als leise zu flüstern:
„Vielleicht ist die Störung nicht das Kind. Sondern der Plan, den wir über alle gelegt haben.“
Also auf wie… oh ein Schmetterling