Vormals: Alprozelam 4 Future

[1] STANDORT
Lisa steht.
Nicht aufrecht.
Nicht entschieden.
Einfach nur:
steht.

Bahnsteig 4.
Wochentag: entfallen.
Temperatur: irrelevant.
Zug: verspätet.
Zustand: pünktlich.

[2] INHALT
Gepäck: keines.
Nur:
– ein Abitur mit Auszeichnung
– eine 1 mg Xanax
– eine Stille, die wie Kunststoff riecht
– und das Gefühl, dass ihre Haut nicht mehr passt

[3] ANWESENDE
Die Erwachsenen sagen:

„Du bist doch klug.“
„Du hattest doch Chancen.“
„Du warst doch früher mal fröhlich.“

Als gäbe es einen Beipackzettel für das Verschwinden.
Als wäre Ehrgeiz ein Gegengift.
Als könnte man mit Durchschnittswerten die Seele retten.

[4] UNTERRICHT
Stundenplan (Woche 23):

Mathematik =  Lückenrechnen
Biologie = Reflexunterdrückung
Chemie = Tränen in Ethanol
Sport = Wegrennen vor sich selbst
Religion = „Glaubst du an etwas?“ = „An Wirkungseintritt in 30 Minuten.“

[5] SPRACHE
Lisa spricht selten.
Wenn doch, dann:

„Ich funktioniere, aber es fühlt sich nicht so an.“
„Ich bin müde auf Zellebene.“
„Wenn ich lache, habe ich Angst, dass man es hört.“

Ihre Stimme klingt wie ein Fenster, das man nicht schließen kann.
Ein Restzug Welt.
Kalt.
Luftig.
Ungebeten.

[6] ONLINESTATUS
Das System fragt:
„Wie geht’s dir?“

Lisa antwortet mit einem Meme.
1 Like.
0 Verständnis.
3 Sekunden Aufmerksamkeit.

Das System meldet:
Aktiv.
Online.
Lebendig.

Beobachterstatus: abgeschlossen.
Anerkennung: ausstehend.
Gespräch: nie begonnen.

[7] PHARMAKOLOGIE
Ein Rezept liegt zerknüllt im Rucksack.
Unklar, ob eingelöst.
Vielleicht wirkt es schon.
Vielleicht ist das hier die Wirkung.
Vielleicht ist sie jetzt einfach: weniger.
Vielleicht ist das das Ziel.
Weniger.
Stille.
Passung.

[8] FAMILIENPROTOKOLL
Mutter klopft.

„Du bist so blass.“
„Du musst mal raus.“
„Denk doch positiv.“

Lisa denkt:

„Wenn Denken helfen würde, wäre ich längst gesund.“

Aber sie nickt.
Weil Zustimmung leiser ist, als Widerspruch.
Und niemand leise kontrolliert.

[9] SYSTEMMELDUNG
Ist das das Ende?

Nein.
Nur:
kein Speicherplatz mehr für Fortsetzungen.
kein Formularfeld für diesen Zustand.
kein Satz,
der sagt,
dass sie noch da ist.

Nur Lisa.
Ein Name auf einem Brief.
Ein Mensch auf einem Bahnsteig.
Ein Körper im System.
Ein Zustand im Wartemodus.
Ein Mädchen,
das sich
immer leiser
noch da nennt.

 

Nachwort

„für jene, die dachten, das hier sei Fiktion“

Nun gut. Sie haben es bis hierher geschafft. Gratulation. Sie leben noch. Vermutlich. Vielleicht haben Sie sich gefragt, ob Lisa real ist. Ob das alles nicht ein wenig übertrieben war. Ob man wirklich so denkt, wenn man nichts mehr fühlt.

Die Antwort ist einfach:

Nein.

 

Lisa ist nicht real. Sie ist nur:
• Ihre Tochter,
• Ihr Schüler,
• Ihre Nachbarin,
• Ihr früheres Ich,
• Ihr jetziges Kind im Inneren,
• Ihre Google Suchanfrage um 02:47 Uhr.

Und falls Sie das Gefühl haben, dieser Text war ein wenig zu still, zu ernst, zu leer, dann liegt das nicht am Text. Sondern daran, dass wir uns längst daran gewöhnt haben, dass junge Menschen funktionieren, aber nicht mehr anwesend sind. Das hier war kein Hilfeschrei. Auch kein Manifest. Nur ein Protokoll. Ein Zustand. Ein Mädchen am Bahnsteig, das sich selbst ein Stück weit aufgibt, damit es endlich wieder in Ruhe gelassen wird.

Wenn Sie das nicht betrifft:

Glückwunsch.

 

Dann lesen Sie dies hier vermutlich nicht mit den Augen, für die es geschrieben wurde.

Und falls doch:

Willkommen.
Setzen Sie sich.
Atmen Sie.

Es wirkt schon.

Liebe Grüße euer Parasit was nehmt ihr heute Blau, Rosa oder doch Backpulver?

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